WILLKOMMEN IM PARADIES

Jaume Plensas Nebelbrunnen "Liebe" vor dem Bahnhof in Leeuwarden ist einer der elf Künstler-Brunnen, die im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs 2018 installiert wurden. Dahinter einige der Bäume aus dem aktuellen Bosk-Projekt, Foto: Cornelia Ganitta

Veröffentlicht in: LUXEMBURGER WORT, 30.6.22

Reist man dieser Tage nach Leeuwarden, erlebt man sein grünes Wunder. Gleich am Bahnhof wurde man – bis vor wenigen Wochen –, begrüßt von mehr als tausend Bäumen, die ein selten gehabtes Wohlfühl-Erlebnis erzeugten. Aus dem Parkplatz vor dem Gebäude wurde kurzerhand mit 800 Baumkübeln ein Bahnhofspark gemacht. Überall roch es nach frischem Grün, Vögel zwitscherten und auch Chorsänger stimmten geräuschvoll auf das natürliche Ereignis ein. Inzwischen sind die Bäume - mehr als 60 verschiedene Arten vom Setzling bis zum meterhohen Exemplar - weitergezogen. Wochenweise werden sie mit Hilfe von fünf ehrenamtlichen Helfern pro Kübel auf einem hydraulisch betriebenen Wagen auf einer Route von 3,5 Kilometern an elf Standorte in der Stadt verbracht. Die Bäume sind Teil eines Plans, genauer, des Arcadia-Plans. Mit der als Triennale angelegten „Arcadia“ – benannt nach der gleichnamigen utopischen Landschaft – will die Stadt ihren Europäischen Kulturhauptstadt-Status von 2018 gewissermaßen weiterführen. Damals erlebte die charmante, knapp 109 000 Einwohner zählende Metropole im nördlichsten Zipfel der Niederlande einen echten Hype. Tausende kamen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, dass Friesland mehr zu bieten hat, als Kühe, Meer und plattes Land. Über 300 Ausstellungen, Konzerte und Veranstaltungen waren gelistet und schlugen am Ende mit 5,5 Millionen Besuchen zu Buche. Das Motto „iepen mienskip“ (Friesisch für „Offene Gesellschaft“), sollte auch in der Zeit danach noch seine Relevanz haben. "Es gibt nichts Schöneres, als gemeinsam etwas Neues zu schaffen", sagt Sjoerd Bootsma, künsterlischer Leiter des Festivals. So sind während der Arcadia mehr als 20 000 Ehrenamtliche in verschiedenen Projekten im Einsatz. "Wir sind stolz auf unsere Zusammenarbeit mit den friesischen Behörden, die die Bedeutung einer großen kulturellen Veranstaltung begrüßen, weil sie in so vielen Bereichen einen Mehrwert für unser Wohlergehen und unseren Wohlstand darstellt“, führt Bootsma weiter aus.

Gemeinsames Bäumerücken

Mit der jetzt aufgelegten, hundert Tage dauernden Arcadia erlebt iepen mienskip eine Neuauflage und zeigen ihre Macher, dass Leeuwarden auch nach 2018 in der Lage ist, viele Besucher in die friesische Provinzhauptstadt zu locken. Auch die „Bottom to top“-Philosophie (von unten ausgehendes Arbeiten) kommt bei dem zehn Millionen Euro-Event, das sechzig Veranstaltungen professioneller Künstler und lokaler Akteure umfasst, wieder zum Tragen. Der wandernde Wald („Bosk“) ist ein gutes Beispiel hierfür. Initiiert noch von Joop Mulder, dem inzwischen verstorbenen, populären Kulturmanager, der 2018 auch schon für das Küsten-Projekt „Sense of Place“ verantwortlich zeichnete, wurde er von Bruno Doedens zu Ende gedacht. „Die Botschaft ist: Welche Zukunft wollen wir? Und wie können wir sie gemeinsam angehen?“, so der Kurator bei der Vorstellung des Projekts. „Bosk versucht, eine Idee davon zu geben. Wir haben viel mehr solcher Ideen nötig. Und dafür sind Kunst und Kultur so wichtig. Bosk will Fragen stellen. Zur gleichen Zeit aber sehen wir, dass wir es gemeinsam angehen können, wenn wir nur wollen. Schon jetzt haben sich mehr als 2000 Menschen für das Verrücken der Bäume gemeldet“. Zweifelsohne ist Bosk angelehnt an die 7000 Eichen, die Joseph Beuys zur Documenta 1982 in Kassel pflanzte und so der Stadt zu neuem Grün verhalf. „Es erinnert aber auch an den Club of Rome, der vor 50 Jahren seinen ersten Bericht herausgab“, so Doedens. „Deshalb ist es jetzt auch ein sehr guter Moment, um erneut auf unser Verhalten gegenüber der Erde aufmerksam zu machen. Es ist spät, aber nicht zu spät. Indem wir jetzt die Ärmel hochkrempeln, können wir immer noch gute Vorfahren sein“.  

Fünf Leute per Wagen sind nötig, um die Bäume zu verrücken, Foto: Sake Elzinga (NRC)

Paradiesische Zustände

Ein zweites großes Projekt von Arcadia spielt sich im königlichen Oranjewoud bei Heerenveen ab, 30 Kilometer südlich von Leeuwarden. Auch hier wird man bereits am zentralen Tjaarda-Parkhotel, von sattem Grün und Vogelgezwitscher empfangen. Neben den Vögeln teilen sich Jogger, Wanderer, Radfahrer, zuweilen Hirsche und – zumindest auf dem Parkplatz – „dicke“ Autos den Wald. Das traumhaft gelegene Viersterne-Haus befindet sich am Eingang zu "Paradys“, der Arcadia-Kunstroute, die man gegen Eintritt bewandeln oder -radeln kann. Was bedeutet "Paradies" heutzutage? Und: Kann es noch bestehen? lauten die Kernfragen dieses Projekts, das der Arcadia einen Hauch von Weltkunst verleiht. Kurator Hans den Hartog Jager hat fünfzehn internationale Künstler/-innen eingeladen, um sich von der Umgebung und der reichen Geschichte des Waldes für die Umsetzung des Themas inspirieren zu lassen. Darunter junge Talente wie die Niederländerin Isa van Lier (1996), deren buntes Zimmer im Stil von japanischen Zen-Gärten zur Meditation einlädt oder Augustas Serapinas (1990), der mit einer authentischen litauischen Rauch-Sauna aus dem 19. Jahrhundert eine verloren gegangene Zeit wiederbelebt. In der „Öko-Kathedrale“ wird die Kreativität des Menschen der Kraft der Natur gegenübergestellt. Hier baute der 2012 verstorbene niederländische Künstler Louis Le Roy (geb. 1924) mit Pflaster-, Bord- und Backsteinen verspielte Wege und Gebäude, die wie alte Ruinen aussehen, sich aber gleichzeitig noch in Entwicklung befinden und im Begriff sind, zu einem langlebigen System zu werden. Auf dem Gelände der Kathedrale befindet sich auch die Video-Installation des Dänen Jakob Kudsk Steensen (1987). Im Mittelpunkt von „Re-Animated“ steht ein Vogel, der im dichten Sumpfwald der hawaiianischen Insel Kaua’i lebte und um 1987 ausgestorben ist. Mit seinem Paarungsgesang, der 1987 von einem Biologen aufgenommen und 2009 auf Youtube veröffentlicht wurde, beflügelt der Kaua’i ‚o’o immer noch die Fantasie. Seitdem haben über anderthalb Millionen Menschen seinem rührenden „Schwanengesang“ gelauscht – auch weil der Ruf des einsamen Vogels langsam verklingt, als ob er die Hoffnung auf Paarung und Überleben aufgegeben hätte. In Re-Animated kann man per VR-Brille in eine paradiesische Urwald-Welt eintauchen, in der dem Kaua’i ‚o’o ein neues Leben geschenkt wird.

 

Zum ersten Mal bei einer großen Schau dabei: Isa van Lier, die mit ihren farbenfrohen Installationen und Keramikskulpturen „einen Spielplatz schaffen will, auf dem man wie ein Kind die Zeit einfach vergisst“, Foto: Cornelia Ganitta
Hans den Hartog Jager, Kurator von Paradys, erzählt, dass man die Sauna von Augustas Serapinas auch zum Teetrinken mieten kann, Foto: Cornelia Ganitta

Erik van Lieshout (1968) hat für Paradys versucht, ein großes Wappenmosaik aus 17000 Blumen in und um den Oranjewoud zu installieren. Am Ende habe man ihm dafür den „hässlichsten Platz von Heerenveen“ angeboten, so Van Lieshout. Über die Schwierigkeiten und Widerstände, die an das Projekt geknüpft waren, hat er einen Film gemacht, der in seinem Atelier auf dem Gelände von Oranjewoud – leider nur auf Niederländisch – zu sehen ist.

Kleider aus Fasern – organisch gewachsen

Die in Amsterdam lebende Deutsche Diana Scherer (1979) erforscht den menschlichen Wunsch, die Natur zu kontrollieren. In ihrem Kunst-Labor entwickelte sie eine Technik, mit der sie das Wurzelwerk in Formen und Mustern lenkt und so Textilien wachsen lässt. Für Paradys hat die Künstlerin drei Kleider erst am Computer entworfen und dann aus Pflanzenwurzeln in einer Schablone wachsen lassen. Die dem jeweiligen Charakter entsprechenden Kleider zeigen die drei mächtigen Statthalterinnen, die das Gut Oranjewoud gegründet und verwaltet haben. „Jedes Kleid hat eine Bedeutung“, sagt Scherer. „Marie Louise zum Beispiel hat ein Kleid aus Rosenfasern, weil sie in Friesland sehr beliebt war und noch immer ist. Das andere besteht aus weißen Seidenfasern, weil seine Trägerin eine dekadente Frau war, verschwenderisch und prunksüchtig“. (Anmerk. d. Red., gemeint ist Marie Louise von Hessen-Kassel (1688 Kassel bis 1765 Leeuwarden), die durch Heirat Prinzessin von Oranien wurde). 

Diana Scherer neben dem Kleid aus Rosenfasern, das die Prinzessin von Oranien, Marie Louise, symbolisieren soll, Foto: Cornelia Ganitta
Alicja Kwade schafft mit ihren Spiegelbildern Illusionen für die Sinne, Foto: Cornelia Ganitta
Athanas Kindendie ist Mitglied des kongolesischen Bildhauerkollektivs CATPC. Diese Gruppe ehemaliger Plantagenarbeiter macht skulpturale Objekte aus Fluss-Ton, die mittels 3-D-Drucker gescannt und mit Hilfe des niederländischen Künstlers Renzo Martens aus Holz oder Schokolade hergestellt werden. Mit dem Erlös kauft die Gruppe Land zurück, das ihnen westliche Unternehmen weggenommen haben. Für Paradys fertigte Kindendie eine Skulptur, die eine Plantagenarbeiterin darstellt. Foto: Cornelia Ganitta

Eine Fels-Skulptur von Alicja Kwade (1979) wird gespiegelt und zeigt so eine andere Realität desselben Objekts. Und schließlich lässt der 2001 mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnete Gladbacher Gregor Schneider (1969) für Paradys donnerstags bis sonntags von 12-13 Uhr von eingeweihten Personen im Wald „heimliche Handlungen“ (und nicht etwa Performances!) vollziehen: Ein Kind verschenkt vereinzelt Blumen. Ein Mann lächelt fremde Besucher an. Ein anderer schiebt eine Frau im Rollstuhl durch die Gegend. Eine Frau summt ein Lied. Der Besucher kann diese Handlungen vollständig übersehen oder zufällig auf sie stoßen, ohne sie als ein Kunstwerk zu erkennen. Schneider verbindet mit seiner Aktion "Heimliche Arbeit, Orangewood 2022" die Hoffnung, die Welt mit kleinen "guten Taten" ein bisschen schöner zu machen und versteht dies auch als Aufforderung an die Besucher, es dem gleich zu tun. Leben im Paradies kann so einfach sein.  

Info: Die Wälder und Landgüter rundum Hotel Tjaarda bilden das Herzstück von Paradys, an den Rändern liegen die Dörfer Knipe und Katlijk. Die Kunstwerke sind an unterschiedlichen Stellen auf diesem Areal installiert. Da das Gelände sehr groß ist, erschließen sie sich einem am besten mit dem Fahrrad! Internet: https://arcadia.frl/de/projecten/paradys/

Allgemein: Arcadia, vom 7.5. bis 14.8.22, Infos zum kompletten Programm im Internet: www.arcadia.frl, www.bosk.frl, www.sense-of-place.eu. Hotels: Post-Plaza (4-Sterne-Hotel im ehemaligen Postkantor von Leeuwarden), Tweebaksmarkt 27, 8911 KW Leeuwarden, Internet: www.post-plaza.nl; Parkhotel Tjaarda, Kon. Julianaweg 98, 8453 WH Oranjewoud, Internet: www.tjaarda.nl.

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