Nest des Widerstands

Wie ein Haus in den Niederlanden zu einer jüdischen Enklave mitten im Krieg wurde
"Das Hohe Nest" bei Naarden (NL), Fotos: Jan Willem Kaldenbach

Veröffentlicht in: JÜDISCHE ALLGEMEINE, 14.5.20

Ein neues Buch schildert die bewegende Geschichte zweier jüdischer Schwestern im niederländischen Widerstand - Auch ANNE FRANK kommt darin vor

Naarden (NL). „Dieses Haus ist größer als wir“, stellt Roxane van Iperen (1976) im Vorwort ihres Buches „´t Hooge Nest“ (Das hohe Nest) respektvoll fest. Passend zum Gedenken an die deutsche Besetzung der Niederlande vor 80 Jahren (10. Mai 1940) erschien das Werk als Hardcover bei Hoffmann und Campe unter dem Titel „Versteck unter Feinden“ auf Deutsch. Für "´t Hooge Nest" erhielt die Juristin 2019 den niederländischen Opzij-Literaturpreis, der an Autorinnen vergeben wird, die sich in ihrem Werk für die Emanzipation von Frauen einsetzen. So spielen Frauen in dem Buch auch die zentrale Rolle. Detailreich und faktenbasiert erzählt Van Iperen das Schicksal der jüdischen Familie Brilleslijper während der NS-Zeit. Spannend bis zur letzten Seite liest sich hier Geschichte wie ein Roman. Sie habe den beiden Hauptfiguren ein Gesicht geben wollen, so die Autorin bei einer Online-Lesung. In drei Kapiteln schildere das Buch die Ereignisse vor dem Krieg, wo noch jeder meine, dass „es gut kommen könne“, während der Phase im Hohen Nest, wo jeder sieht, dass „es schiefgeht“ und die blanke Realität „auf dem Transport in die Gaskammern des Ostens“. Keine leichte Kost, vor allem bezogen auf die grausamen KZ-Schilderungen im letzten Drittel des Buches.   

Spuren des Widerstands

2012 beschließt Roxane van Iperen mit ihrem Mann und drei Kindern in den noblen Speckgürtel von Amsterdam zu ziehen. Het Gooi, eine Landschaft bei Naarden, zwischen Amsterdam und Ijsselmeer, soll es werden. Die Wahl fällt auf ein großes Haus, von Bäumen verdeckt, mitten im Wald. Noch während der Renovierungsarbeiten entdeckt die Familie hinter Wand-Vertäfelungen und in hohlen Holzböden Kerzenreste, Notenblätter und Widerstandszeitungen aus dem 2. Weltkrieg. Schnell wird klar, dass sich hinter diesem alten Gemäuer etwas Ungeheuerliches abgespielt haben muss. Roxane van Iperen beginnt, Nachbarn und Nachkommen zu befragen, persönliche Aufzeichnungen, Briefwechsel und gefilmte Zeitzeugen-Aussagen zu durchforsten. Außerdem recherchiert sie in niederländischen (NIOD) und israelischen Archiven (Yad Vashem) sowie der Shoa Foundation von Steven Spielberg in den USA. Sechs Jahre später hat sie die Puzzlestücke sortiert und zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Auf fast 400 Seiten präsentiert die Autorin höchst anschaulich die Ereignisse rund um das Haus, das mitten im Krieg als jüdischer Zufluchtsort diente. Van Iperens besonderes Augenmerk dabei liegt auf den damaligen Bewohnerinnen „ihres“ Hauses - Janny (1916 bis 2003) und Lien (1912 bis 1988) Brilleslijper.  

Juristin und Autorin: Roxane van Iperen
´t Hooge Nest / Das hohe Nest

Untertauchen im Hohen Nest

Die beiden Schwestern wachsen in einfachen Verhältnissen im Jüdischen Viertel von Amsterdam auf und haben zunehmend unter den Repressalien gegenüber Juden zu leiden. Während Lien eine Laufbahn als Tänzerin und Sängerin einschlägt und bald schon mit dem deutschen Musiker und Kommunisten Eberhard Rebling liiert ist, wendet sich Janny nach dem Einmarsch der Deutschen dem Untergrund zu. Sie weigert sich, den Judenstern zu tragen, druckt gemeinsam mit ihrem späteren Mann Bob Flugblätter und verbreitet illegale Publikationen. Regelmäßig ist sie unterwegs, um gefälschte Pässe in Umlauf zu bringen und Lebensmittelmarken zu besorgen. Als es aufgrund ständiger Razzien zu gefährlich wird in Amsterdam, vermittelt Jan Hemelrijk vom Verzet (Widerstand) Janny und ihrem niederländischen Ehemann das großräumige Sommerhaus eines Geschwisterpaares in Naarden. Mitten in einem exklusiven Wohngebiet erweist sich die Villa als ideales Versteck. Kaum sind sie als offizielle Mieter im „Hohen Nest“ gelandet, holen sie den Rest der Familie nach. Nach und nach wird das Haus zu einem Hort für Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Es gelingt der Gemeinschaft fast eineinhalb Jahre unentdeckt zu bleiben, trotz ständiger Angst aufzufliegen. Immerhin leben sie in Nachbarschaft von Nazi-Größen wie dem niederländischen „Führer“ Anton Mussert, der in Naarden ein Liebesnest unterhält. Selbst das kulturelle Leben findet zu neuer Blüte: Im Schutz der isolierten Lage wird auf dem Höhepunkt der Judenhatz 1943 jiddisch gesungen, musiziert und rezitiert.

Immer wieder geben sich hier Geflüchtete die Klinke in die Hand. Am Ende sind es siebzehn Personen, die den harten Kern des Hauses bilden. Jaap, der jüngere Bruder von Janny und Lien erweist sich dabei als genialer Erfinder und Handwerker. So installiert er ein Warnsystem aus kleinen Lämpchen in jedem Zimmer, die bei Gefahr von außen leuchten sollten. Außerdem konstruiert er ein Radio, mit dem sie BBC-Nachrichten hören, in der stetigen Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei sei. Schließlich ist auch er es, der die Luken in den Böden anlegt. Zig Mal proben die Bewohner, sich im Ernstfall binnen 30 Sekunden hierin unsichtbar zu machen. Und schließlich ist da noch die chinesische Vase in einem der Fenster im ersten Stock. Solange die an ihrem Platz steht, kann man sich dem Haus gefahrlos nähern.

Letzter Beistand für Anne und Margot Frank

Doch vor Verrat schützen selbst solche Vorkehrungen nicht. Und so werden sie im Sommer 1944, als das Land offiziell schon als „judenrein“ gilt von einer unter Druck gesetzten Informantin an einen „Judenjäger“ des NSB (niederländische Nationalsozialisten) verraten. Es gelingt den Schwestern noch, ihre Kinder in die Obhut einer ortsansässigen Arztfamilie zu geben, danach folgen tagelange Verhöre bei der Amsterdamer Sicherheitspolizei und der Transport nach Westerbork, dem niederländischen Durchgangslager Richtung Osten. Über diese 1939 perfiderweise ursprünglich für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland eingerichtete Auffangstation, werden sie schließlich am 3. September mit dem letzten Zug nach Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Dort treffen sie auf Margot und Anne Frank, denen Janny später bis zu deren Tod an Fleckfieber im Februar 1945 zur Seite steht.

Janny und Bob Brandes, ca. 1956, Privatarchiv Rob Brandes

Am Ende des Krieges werden es 107 000 sein, mehr als drei Viertel der niederländischen Juden, die in die Vernichtungslager verbracht wurden. Nur 5000 von ihnen kehrten zurück. Darunter, mit viel Glück und eisernem Willen, Janny und Lien, deren Eltern und Bruder in Auschwitz ermordet wurden. Nach dem Krieg war es Janny, die mit Hilfe des Roten Kreuzes Otto Frank ausfindig machte, um ihm die Todesnachricht seiner Kinder zu überbringen. Während Lien mit ihrem Mann – ihrer kommunistischen Ideale wegen – in den 1950er Jahren nach Ostdeutschland übersiedelte, wo sie als Lien Jadalti als Sängerin auftritt, begann für Janny und Bob Brandes-Brilleslijper ein neues Leben in ihrer Heimatstadt Amsterdam. Einmal befragt über ihr mutiges Handeln während der Nazi-Zeit, antwortete Janny wie selbstverständlich: „Wir haben getan, was wir tun mussten, was wir tun konnten. Nicht mehr und nicht weniger.“

Roxane van Iperen, „Ein Versteck unter Feinden“, übersetzt von Stefan Wieczorek, erschienen bei Hoffmann und Campe, Hamburg, ISBN 978-3-455-00645-2, 24,- Euro. Seit April 2021 ist das Buch auch als TB für 14,- Euro erhältlich.

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