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Der isländische Künstler Ragnar Kjartansson lässt in Tilburg "die Puppen" tanzen
Ragnar Kjartansson, Woman in E, ursprünglich aufgeführt in Detroit 2016, Foto: Museum De Pont

Veröffentlicht in: LUXEMBURGER WORT, 24.11.22

Nähert man sich dem Museum De Pont in Tilburg von außen, meint man, es mit einem großen Supermarkt ohne Reklame zu tun zu haben. Der Parkplatz unmittelbar vor dem unscheinbaren Eingang, verstärkt diesen Eindruck noch. Tatsächlich war das „De Pont“ in derBrabantschen Textilstadt früher eine Wollspinnerei. Das niederländische Büro Benthem Crouwel Architects verwandelte das Industriegebäude mit seinem charakteristischen Sägezahndach in ein Ausstellungshaus mit viel Tageslicht. 1992 eröffnet, wurde es 2016 um einen Flügel für Foto- und Videopräsentationen erweitert sowie durch ein Museumscafé und einen schönen Garten ergänzt. Das Museum ist nach dem Tilburger Anwalt und Unternehmer Jan de Pont (1915-1987) benannt, der einen Teil seines Vermögens für die Förderung zeitgenössischer Kunst zur Verfügung stellte. Vorsitzender des Vorstands ist kein Geringerer als der amtierende Generaldirektor des Rijksmuseums, Taco Dibbits.

Betritt man das De Pont, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf einer 6000 Quadratmeter großen Fläche, die von „intimen Woll-Lofts“ umrahmt ist, wird zeitgenössische Kunst unterschiedlichster Genres geboten. Darunter Zeichnungen von Berlinde De Bruyckere, Fotografien von Rineke Dijkstra, Malerei von Katharina Grosse sowie im Wortsinn „großspurige“ Skulpturen von Thomas Schütte, die zur hauseigenen Sammlung zählen. Die Halle mit ihrem offenen, großen Raum, bietet viel Platz – auch für die Arbeiten von Ragnar Kjartansson (*1976 in Reykjavik). Aktuell ist dem isländischen Künstler hier mit „Time Changes Everything“ die erste niederländische Soloschau gewidmet. Kjartanssons international gefeiertes Werk, nimmt in der zeitgenössischen Kunst eine einzigartige Stellung ein. Die Vielfalt seines Schaffens wird im De Pont mit sowohl bekannten Werken, als auch neuen Arbeiten in voller Breite gezeigt. Mittendrin seine monumentale Installation „Woman in E“ von 2016, die eigentlich eine Performance ist und sich mit dem weiblichen Geschlecht als Modell und Objekt auseinandersetzt. Dabei schlägt eine Frau im goldenen Glitzerkleid auf einem goldenen Podium auf einer E-Gitarre ständig den melancholischen e-Moll-Akkord an. Das Art Work-Team, bestehend aus 14 Künstlerinnen, wechselt sich bei dieser „sportiven“ Leistung alle drei Stunden ab.

Thomas Schüttes "Geister, die ich rief", Große Geister Nr. 4, 5, 14. 1997/1999, Foto: Cornelia Ganitta

Feministische Lebensauffassung

Performances sind das Markenzeichen des umtriebigen Künstlers. Seinen Durchbruch in der internationalen Kunstwelt allerdings, hatte er mit Malerei. 2009 vertrat er sein Land auf der Biennale von Venedig. Dort produzierte er unter den Augen der Öffentlichkeit in einem alten Palazzo ein halbes Jahr lang, rauchend und saufend, Gemälde wie am Fließband. Sein Modell: ein Mann in Speedo-Badehose und mit Bierflasche in der Hand. Damit wollte Kjartansson dem Klischee des romantischen Künstlerbohemien mit Bart und Dandy-Tolle zu Leibe rücken. Das deutsche Kunstmagazin Monopol kommentierte seinerzeit: „Es kommt einiges zusammen in Kjartanssons Gesamtkunstwerk-Burleske: Sommer und Winter, die Enge Venedigs und das Erhabene der Natur, Homoerotik und Narzissmus, Selbstinszenierung und Dekonstruktion der Künstlerexistenz“. Jetzt hängt eine Auswahl der so entstandenen 144 Gemälde dicht gereiht an den meterhohen Tilburger Ausstellungswänden.  

Zuhauf das gleiche Motiv: der Badehosen-Mann von Ragnar Kjartansson, Foto: Cornelia Ganitta
Eine Arbeit, entstanden in einem alten Palazzo am Canal Grande, Venedig 2009, Foto: Cornelia Ganitta

Der Hang zum Erhabenen, seine feministische Lebensauffassung und seine Hassliebe zur Romantik ziehen sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre des Künstlers, das geprägt ist von einem fortwährenden Ausbalancieren zwischen Extremen, völliger Hingabe und ironischem Kommentar. In der Vergangenheit hat der Isländer dies hinreichend bewiesen. So filmte er Klavierkonzerte im ewigen Eis, verkleidete sich als Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts, trat als Robert Schumann, Ritter oder Schlagersänger auf. Seine Affinität zur Musik ist in seinem Werk allzeit erkennbar, was nicht wundert, wenn man weiß, dass Kjartansson seit Teenie-Tagen als Musiker in wechselnden Bands auftritt. Auch bei seinem jüngsten Werk „No Tomorrow“ (2022), einem Ballett für acht Tänzerinnen mit Gitarren, kommt sein Hang zur Musik zum Tragen. Für die Ausstellung hat Kjartansson das Ballett zu einer beeindruckenden sechsteiligen Videoinstallation bearbeitet, mit dreißig Tonkanälen, die die Musik fast greifbar machen. In der Mitte der Installation stehend, ziehen die Darstellerinnen spielend und singend auf den Bildschirmen vorbei. 

Ragnar Kjartansson, Margrét Bjarnadóttir & Bryce Dessner, No Tomorrow, 2022, Videostill, Foto: Museum De Pont

Der Künstler als Performer spielt eine wichtige Rolle in Kjartanssons Werk. So auch in der tragikomischen Videoserie „Me and My Mother“, einer Aufzeichnung von Auftritten mit seiner Mutter (der isländischen Schauspielerin Guðrún Ásmundsdóttir), die Kjartansson vor zwanzig Jahren begann und seitdem alle fünf Jahre wiederholt. Eine vielschichtige, intensive und persönliche Arbeit über eine Mutter-Sohn-Beziehung, die beide in ihren Rollen wachsen lässt. In der Ausstellung gezeigt wird – in Verbindung mit den früheren Versionen – Teil 5 aus 2020, den das De Pont im vergangenen Jahr erworben hat.

Ein Hoch auf den Loop

Der Effekt der endlosen Wiederholung, bei der Geschichte und Handlung in den Hintergrund treten, kommt immer wieder zurück. In „Bliss“ (2020), der Videoaufzeichnung einer Performance aus dem Jahr 2011, wird die letzte Arie aus Mozarts Hochzeit des Figaro, zwölf Stunden lang ununterbrochen aufgeführt. Der Betrachter kann dabei in ein „hypnotisches Mantra der Liebe und Vergebung“ eintauchen, wie es dazu in einem Begleittext zur Ausstellung heißt. Und auch das ist darin zu lesen: "Die Zeit verändert unsere Perspektive und unsere Gefühle, während das Leben weitergeht. Und wenn man es nur schafft, die Zeit lang genug zu dehnen, indem man Szenen endlos wiederholt, scheinen wir uns sogar von ihr zu lösen. Kjartansson versteht es wie kein anderer, dies zu erreichen“. Mit einem ausgeprägten Sinn für Humor und Ironie, weckt Kjartanssons Gefühle über Leben und Tod, Schönheit und Gefahr, vollständige Hingabe und Kontrolle. Emotionen, in denen Ängste und Begierden auf großartige und fesselnde Weise zelebriert werden. Man muss nur die Zeit dafür haben.  

Ragnar Kjartansson: Time Changes Everything, bis 29.1.23, De Pont Museum, Wilhelminapark 1, 5041 EA Tilburg (NL). Öffnungszeiten: Di-So, 11-17 Uhr (Do, 17-21 Uhr, freier Eintritt), Infos unter: www.depont.nl

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