NAH AM LEBEN

Tour & Taxis in Brüssel zeigt Werke hyperrealistischer Kunst
Marc Sijan, Embrace 2014, Polyesterharz und Ölfarbe, © Marc Sijan, Courtesy of the artist and Institute for Cultural Exchange, Tübingen

Veröffentlicht in: LUXEMBURGER WORT, 21.10.21

Vorsichtig hält die Frau ein Baby im Arm. Ihr silbernes, sorgfältig frisiertes Haar ist hochgesteckt. Die Falten im Gesicht, die hervorstehenden Adern an den Händen sowie erste Anzeichen von Gicht in ihren feingliedrigen Fingern und die innige Art, wie sie das Kind hält, lassen darauf schließen, dass es sich sehr wahrscheinlich um die Großmutter des Kindes handelt. Sie hält die Augen geschlossen, als könne sie ihr Glück kaum fassen. Es ist, als ob Frau und Kind uns direkt gegenüberstünden. Doch so sehr wir uns auch hineinvertiefen und meinen, ein reales Menschenpaar vor Augen zu haben, so sehr obliegen wir einer optischen Täuschung. Denn beide, Frau und Kind, sind nicht echt, sondern wurden von dem australischen Künstler Sam Jinks nach einem aufwändigen Verfahren geschaffen: So modelliert Jinks (Jahrgang 1973) seine Skulpturen nach Vorlage eines Minimodells auf einem Stützgerüst aus Stahl und Holz erst in Ton, bevor er sie in Silikon gießt. Nach der Ausformung setzt er menschliche Haare ein und trägt zuletzt Farbe auf. Eine Besonderheit seiner Objekte liegt darin, dass seine Körper stets etwas kleiner als im Maßstab 1:1 abgebildet sind, was den verletzlichen Eindruck noch verstärkt. Jinks Themen handeln vom Kreislauf des Lebens, von Geburt, Krankheit und Tod. Mit seiner Technik ist er dem Hyperrealismus zuzuordnen, einem Genre der Malerei und Skulptur, das einer hochauflösenden Fotografie ähnelt. Das kommt nicht von ungefähr, geht der Begriff doch auf eine unabhängige Kunstbewegung in den USA zurück, die sich seit den späten 60er Jahren dort entwickelt hat und als Weiterführung des Fotorealismus angesehen wird. Vertreter dieser Strömung nutzen reale Vorbilder, um im künstlerischen Prozess zu losgelösten, neuen Realitäten zu gelangen. So entstehen naturgetreue Nachbildungen, die eine Illusion des menschlichen Körpers wiedergeben. Unter Verwendung neuer Materialien (Silikon, Kunstharz, Fiberglas) in Kombination mit traditionellen Techniken – darunter das Gussverfahren, die Modellage oder die Malerei – entwickeln Hyperrealisten zeitgenössische Darstellungsweisen des figürlichen Realismus.

Sam Jinks, Woman and Child 2010, Mixed Media, © Sam Jinks Courtesy of the artist, Sullivan+Strumpf, Sydney and Institute for Cultural Exchange, Tübingen
Zharko Basheski, Ordinary Man 2009-2010, Polyesterharz, Fiberglas, Silikon, Haare, © Zharko Basheski, Courtesy of the artist and Institute for Cultural Exchange, Tübingen

Faszinierend und abschreckend zugleich

Jinks „Frau mit Kind“ (2010) ist eine dieser naturgetreuen Nachbildungen und Bestandteil einer Ausstellung im Brüsseler Handels- und Kulturzentrum Tour & Taxis (ehemals das Zolldepot), die dieser Kunstrichtung gewidmet ist. Ihr Titel „Ceci n´est-pas un corps“ referiert an Magrittes berühmte Pfeife, von der dieser behauptete, dass es keine Pfeife sei. Nach Monterrey (Mexiko), Canberra (Australien), Bilbao (Spanien, den Niederlanden (Rotterdam), Deutschland (Hagen) und einigen weiteren Stationen, markiert die belgische Kapitale eine weitere Station auf ihrer „Welttournee“. Den mehr als 40 Skulpturen von internationalen Künstlern rund um George Segal, Maurizio Cattelan, Marc Sijan und Mel Ramos, sind hohe Besucherzahlen – je nach Pandemielage – garantiert. So zählte die Schau allein in der Rotterdamer Kunsthal 230000 Besucher in drei Monaten, weshalb auch nach Brüssel noch nicht Schluss ist. Im nächsten Jahr wird Ausstellung nach Angaben ihrer Macher, der belgischen Kulturagentur Tempora (in Zusammenarbeit mit dem deutschen Institut für Kulturaustausch), nach Lyon weiterwandern. Das Echte beziehungsweise das, was wir dafür halten, macht neugierig und zieht ein breites Publikum an. Vor allem dann, wenn man gewahr wird, dass das, was wir sehen, nur ein Abbild des Echten ist. Der Faszination gleich kommt nicht selten der Schreckmoment. Zum Beispiel dann, wenn einem ein überdimensionierter, seitlich liegender Säugling, dessen Nabelschnur noch nicht durchschnitten ist, zerknautscht in die Augen blickt. Hier zeugen der medizinische Blick und die enorme Vergrößerung von der Verfremdung. Acht Monate hat der Australier Ron Mueck (Jahrgang 1958) an der fünf Meter langen Silikon-Skulptur eines neugeborenen Mädchens gearbeitet. Dabei kam ihm seine mehr als zwanzigjährige Erfahrung als Modellbauer und Entwickler von Spezialeffekten in der Film- und Werbewelt zugute.  

Noch verstörender wirken die Arbeiten von Berlinde de Bruyckere (Jahrgang 1964). Die gern mit Wachs, Holz, Wolle und Pferdehaut experimentierende Belgierin lässt sich von Medienbildern und Kriegsberichterstattungen inspirieren. Ihre verformten Skulpturen, die aussehen wie Leichen, fordern den Betrachter heraus und stürzen ihn in eine imaginäre Welt des Todes und der Qual. Man möchte wegschauen angesichts der durch diese Objekte hervorgerufenen beklemmenden Atmosphäre, die beeindruckend und abstoßend zugleich wirkt. Ebenso abstoßend sind die Arbeiten der fast gleichaltrigen Australierin Patricia Piccinini (Jahrgang 1965), die mit ihren ambivalenten, menschenähnlichen Zwitterwesen eine Ahnung davon vermittelt, was genmanipulierende Technologie womöglich künftig zu kreieren vermag.

Carole A. Feuerman, General´s Twin 2009-2011, Öl auf Harz, © Carole A. Feuerman, Consigned to Galerie Hübner & Hübner, Courtesy of Institute for Cultural Exchange, Tübingen

Pioniere des Hyperrealismus

Solche Horror-Visionen kannten die Wegbereiter des Hyperrealismus noch nicht. Zu ihnen gehören George Segal, John DeAndrea und Duane Hanson, die mit ihren Werken einen Gegenentwurf zur Dominanz der abstrakten Kunst liefern wollten. Auch sie sind mit einer beträchtlichen Anzahl an Objekten ausgestellt. Wenn man über Duane Hansons „Two Workers“ von 1993 stolpert, die mit Leiter, Bohrmaschine, Arbeitshandschuhen und Kabelroller drumherum mitten im Weg platziert sind, meint man, sich entschuldigen zu müssen - so leibhaftig kommen sie daher. Dass sie mit echten Kleidungsstücken, Perücken und Accessoires ausstaffiert sind, erhöht nur noch die Illusion einer realistischen Szene aus dem Alltag. Das Ensemble zählt zum Spätwerk des Künstlers (1925 bis 1996), der schon in den 60ern begann, lebensgroße menschliche Figuren zu modellieren. Diese fertigte er aus Fiberglas und Polyesterharz, basierend auf Abgüssen von lebenden Modellen. Mit John DeAndrea präsentierte Hanson seine Skulpturen erstmals auf der Documenta 5 in Kassel 1972 einer großen Öffentlichkeit, was dem Hyperrealismus zum Durchbruch verhalf. Dabei setzte der Künstler von Anfang an auf gesellschaftskritische Themen, die er mittels der Darstellung der Arbeiterklasse und gesellschaftlicher Randfiguren im wahrsten Wortsinn „realisierte“. 

„Hyperrealismus Skulpturen – ceci n´est pas un corps“, bis 12.12.21, Tour & Taxis, Av. du Port 86C, 1000 Brüssel. Internet: https://expo-corps.com/

Der Text basiert auf einer u. a. vom Thalys bezuschussten Pressereise. Mit diesem Zug kann man sehr bequem in roten Samtsesseln (wie im Kino!) von Essen, über Köln, Aachen und Lüttich nach Brüssel und weiter bis Paris reisen. Internet: https://bit.ly/3aZkX9a

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