Ehre, wem Ehre gebührt!

Das Fotomuseum in Rotterdam zeigt die besten Fotos des Landes
"Meine Mutter", das 100. Bild, Foto: Cornelia Ganitta

Veröffentlicht in: LUXEMBURGER WORT, 2.12.21

Holland ist um eine Ehre reicher. Genauer: eine Ehrengalerie. Nachdem das Amsterdamer Rijksmuseum mit einer Ehrengalerie der Maler des Goldenen Zeitalters viele Touristen, vor allem aus dem Ausland anlockt, zieht das Nederlands Fotomuseum in Rotterdam nun nach. Nur, dass die hiesige Galerie nicht bei der Nachtwache endet, sondern bei der Fotografie der 2020er Jahre. Ursprünglich schon geplant für Januar, konnte sie pandemiebedingt erst im Juni an den Start gehen. Nun aber hängen sie, die 99 Bilder, chronologisch angeordnet, an dunkelblauen Saal- oder Ausstellungswänden. Eine blaue Linie auf dem Boden führt von den frühen Daguerreotypien ab 1842 (als Leihgaben des Rijksmuseums) hin zu den digitalen Großformaten und Instagram-Fotografie der Gegenwart. „Die Ehrengalerie ist eine Idee von Birgit Donker, die vor drei Jahren als neue Direktorin den Fokus des Hauses verändert hat“, sagt Frits Gierstberg, kuratorisches Urgestein am Fotomuseum. „Früher lag er auf internationaler Fotografie, jetzt liegt er auf der Fotografie aus den Niederlanden“. Um dem eigenen Foto-Reichtum eine adäquate Form der Präsentation zu ermöglichen, aber auch, um noch mehr Besuchergruppen zu generieren (s. Rijksmuseum), war die Idee einer Ehrengalerie geboren.

Blick in die Caféteria mit einem Foto (Nick Cave, 1996) von Anton Corbijn, der auch in der Ehrengalerie vertreten ist. Foto: Cornelia Ganitta
Der Museumsshop, Foto: Cornelia Ganitta

Eine zweite Intention war es, das Museum, das sich seit 2007 in dem neuen Stadtteil „Kop van Zuid“, zwischen futuristischen Gebäuden von Rem Koolhaas und Mecanoo befindet, für Besucher attraktiver zu machen, sprich inklusiv zu gestalten. Eine eigens entwickelte App soll dabei helfen. Über sie kann man Hintergrundinfos zum jeweiligen Bild einsehen, warum gerade dieses hier hängt und was es so herausragend macht, aber auch ein Foto aus seinem eigenen Umfeld hochladen, das digital in der Ausstellung erscheint. Dieses ist dann das Tüpfelchen auf dem i oder auch das „plus 1-Bild“, das die persönliche Ehrengalerie komplettiert, wie Birgit Donker im Ausstellungs-Booklet schreibt: „Es ist das Foto, das bewusst oder unbewusst nicht ausgewählt wurde, das nicht bekannt war und nicht genügend wertgeschätzt wurde. Es ist das Foto, das du selbst bestimmst“. Als das hundertste Bild, dem „weißen Fleck“ in der Fotogeschichte sozusagen, wird es regelmäßig durch ein anderes ersetzt, das dann die 100 wieder vollmacht. Es könnten mehr sein, wenn man bedenkt, auf welchen Schatz man hier zurückgreifen kann. So verwaltet das Museum 175Archive verstorbener und zeitgenössischer Fotografen mit knapp 5,7 Millionen Negativen, Kontaktbögen, Abzügen, Korrespondenzen und Notizbüchern, die angesichts der ständigen Gefährdung durch Hochwasser in den acht Meter höher gelegenen zehn Speichern des Hauses lagern. Damit besitzt das Nederlands Fotomuseum eigenen Angaben zufolge das größte Depot für Foto-Negative in Europa.

Statt 99 Luftballons 99 Fotografien

Für die Auswahl der „Ehrenbilder“ hatte Birgit Donker seinerzeit eine Kommission aus fünf Experten berufen (unter dem Vorsitz von Frits Gierstberg). Ihr Auftrag war es, nach bestimmten Kriterien 100 Fotos auszuwählen, aus denen sie dann 99+1 machte. Als solche kamen nur jene Bilder in Betracht, die zum einen bedeutungsvoll waren oder sind für die Entwicklung der niederländischen Fotografie. Zum anderen sollten sie künstlerisch und gesellschaftlich relevant, visuell stark, innovativ und schließlich nicht nur dem traditionellen Kanon verpflichtet sein. Auch Aspekte von Diversität und kolonialer Vergangenheit sollten mit einfließen. „Es handelt sich nicht nur um niederländische Fotografie“, sagt Gierstberg, „sondern um Fotografie aus den Niederlanden.“ Und weiter: „Dazu gehören auch niederländische Fotografen, die im Ausland gearbeitet haben, solche aus Curaçao und Surinam und solche, die in den Niederlanden gewohnt und gearbeitet haben. Werner Mantz zum Beispiel ist ein Fotograf aus Köln. Als `Halb-Jude´ aber floh er 1938 nach Maastricht, weshalb auch er nun in der Galerie vertreten ist“.

Werner Mantz, Kühltürme, Staatsmine Emma, Hoensbroek 1938, Foto: Cornelia Ganitta
Passfotos von Anne Frank, 1939, Urheber unbekannt, Foto: Cornelia Ganitta

Am Eingang zur Ausstellung passiert der Besucher zunächst eine riesige Projektionswand, auf der die Bilder der Ehrengalerie im Film vorbeiziehen und einen ersten Eindruck davon geben, was einen in der Ausstellung erwartet. Unter anderem wird man dort mit einer Reihe überdimensionierter Passfotos von Anne Frank konfrontiert, die sinnbildlich für den Holocaust stehen und an anderer Stelle in der Ausstellung noch einmal vorkommen. „Nicht der Fotograf ist es, der hier zählt – wir wissen gar nicht, wer die Bilder gemacht hat –, sondern das Foto und seine Aussage“ sagt Gierstberg. Auch alle anderen Fotos haben ein Thema, sei es wissenschaftlicher, soziologischer oder experimenteller Natur: Hier die tote Giraffe von Paul Steenhuizen, die mit allen vieren von der Decke hängt (1896), dort das erste Farbbild (ca. 1912) von Jan Zeegers. Hier der Hungerwinter 1944/45 von Cas Oorthuys, dort Ed van der Elsken mit einer „Liebesgeschichte“ aus dem Jahr 1951. Hier der niederländische Kult-Fußballer Johan Cruyff mit Kameraden, die 1967 für das Bild von Paul Huf wie für eine Modefotografie posieren, dort Chas Gerretsen mit seiner berühmten Aufnahme des chilenischen Generals Pinochet (1973). Hier Rineke Dijkstra mit ihrem Portrait eines Mädchens am Strand von 1992, dort eine junge Muslima von Céline van Balen (1998). Hier „Pferde in Not“ von Marrum (2006), dort die digitale Großaufnahme „The Island of the Colorblind“ in Pink, das Sanne de Wilde 2018 von Farbenblinden hat bearbeiten lassen.

Ed van der Elsken, Zuid-Molukkers (Süd-Molukken), Tiel 1970, Foto: Cornelia Ganitta
Vincent Mentzel, Zuschauer während eines Fußballspiels zwischen Feyenoord-Ajax, de Kuip, Rotterdam 1969, Foto: Cornelia Ganitta
Emmy Andriesse, Hungerwinter, Amsterdam 1944-45, Foto: Cornelia Ganitta

Manche Bildplätze sind – trotz der ohnehin schon recht geringen Gesamtanzahl – gleich zwei- bis dreifach mit Cas Oorthuys, Ed van der Elsken oder Erwin Olaf belegt, was der Tatsache geschuldet ist, dass speziell sie für die niederländische Fotografie bildbestimmend waren. Aus konservatorischen Gründen sind alle Bilder Faksimiles, da sie hier länger als drei Monate hängen. Drei Jahre, um genau zu sein. Für diese Dauer hat das Fotomuseum weitere 2000 Quadratmeter des ehemaligen Hafengebäudes, das früher im Besitz der berühmten Holland-Amerika-Schifffahrtslinie war, angemietet und neugestaltet - in der Hoffnung auf viele internationale Besucher. Internet: www.nederlandsfotomuseum.nl

Foto: Cornelia Ganitta

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