Eine Arche Noah für die Kunst

Das neue Boijmans Van Beuningen-Depot in Rotterdam bewahrt Kunst auf mehr als 15.000 Quadratmetern. Doch auch bestaunen kann man sie
Das Depot liegt zentral mitten im Museumspark (rechts: Het Nieuwe Instituut), Foto: Ossip van Duivenbode

Rotterdam hat ein neues Wahrzeichen: Das verspiegelte Depot des Boijmans Van Beuningen Museums steht für eine neue Kunst des Sammelns.  Zusammen mit der grandiosen Architektur bildet es das, wofür es im Deutschen ein so wunderbares Wort gibt wie: GESAMTKUNSTWERK

VERÖFFENTLICHT IN: MONOPOL - Magazin für Kunst und Leben, am 5.11.21

Keine Frage, das neue Kunstdepot in Rotterdam ist beides: ein Hingucker und Chefsache. König Willem Alexander höchstselbst hat es am heutigen Freitag (5.11.) eröffnet. "Salatschüssel", "Arche Noah", oder einfach nur "De Pot" (Der Topf) sind schon jetzt die beliebten Spitznamen für das kreisrunde, verspiegelte Gebäude mit dem Grünzeug auf dem Dach. Das Besondere, und damit unterscheidet es sich definitiv von einer Salatschüssel, aber auch von dem in Basel ansässigen Schaulager aus dem Hause Herzog & de Meuron: Es ist das erste öffentlich zugängliche Kunstlager der Welt, noch dazu inmitten eines Museumsquartiers gelegen.

Nachdem sieben LKW pro Tag über mehrere Monate die Kunst aus verschiedenen auswärtigen Depots "heimgeholt" haben, ist nun alles an seinem Platz: Der Bruegel hängt da, wo der hängen soll, ebenso wie die Gemälde von Rubens, Rembrandt, Mondrian, Rothko, Baselitz und Co, die allesamt Teil der milliardenschweren Sammlung des Museums Boijmans Van Beuningen sind.

Platz zu schaffen für mehr als 150.000 Objekte lautete seinerzeit die Devise, die zum Bau des Depots führte. Wohin mit Werken aus sieben Jahrhunderten, die im Keller eines Museums lagern, wo sie a) kaum einer sieht und sie b) von stets wiederkehrendem Hochwasser bedroht sind? Diese Frage stellte sich auch Sjarel Ex, der das Boijmans Van Beuningen, das zu den ältesten Museen der Niederlande zählt, seit 2004 leitet. Er ergriff die Initiative, die gesammelte Kunst in einem Gebäude außerhalb der eigenen vier Wände zu archivieren. Dabei will das Depot keine Ausstellungs-Erweiterung des Haupthauses sein, sondern eine Art offener Kunstraum, der unter anderem die (Restaurierungs-)Arbeit an und mit den Objekten sichtbar macht.

Blick in die Restaurierungswerkstatt, Foto: Cornelia Ganitta

Neue Form der Kunstteilhabe

Laut Ex lagern in den meisten Museen etwa 92 Prozent der Kollektion in den Kellern. "Das entspricht nicht unserer Auffassung von einer modernen Kunstvermittlung. Indem wir zeigen, wie Dinge verpackt, konserviert, restauriert und auf den Weg gegeben werden, wollen wir eine andere Form der Kunstteilhabe ermöglichen", sagt der Niederländer, der seinen Landsleuten ein großes Kunstinteresse bescheinigt. So würden die 430 Museen des Landes jährlich von rund 30 Millionen Menschen besucht. Das Boijmans van Beuningen mit circa 300.000 Besuchern (Stand 2019) gehöre dabei zu den am stärksten frequentierten.

Mit dem Depot dürften das noch weit mehr werden, nicht nur, weil die Tickets für das Eröffnungswochenende im Nullkommanichts ausverkauft waren. Allein der Bau ist eine Sensation. Nach dem Sieger-Entwurf des renommierten, niederländischen Architekturbüros MVRDV wurde er in nur vier Jahren hochgezogen – inklusive der pandemiebedingten Verzögerung. Auffälligstes Kennzeichen: die Spiegelfassade, die sich mit 6609 Quadratmetern Gesamtfläche von unten bis zum Dach erstreckt. Kaum, dass die ersten der insgesamt 1664 gekrümmten, in China gefertigten Glaspaneele befestigt waren, wurden sie zum begehrten Foto-Objekt. Nicht nur für Profi- und Hobbyfotografen, sondern auch für eine stets größer werdende Social-Media-Fangemeinde, deren spiegelnde Selfies auch einen Blick auf die Nachbarschaft dieses mitten im Museumpark angesiedelten Kunst-Speichers freigeben. Ebenfalls hitverdächtig: die aufwändig designte Lichtinstallation der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist, die das Depot abends zauberhaft zum Leben erweckt.

Mit knapp 40 Metern Höhe übertrumpft der Speicher bewusst nicht den Turm des benachbarten Mutterhauses des Boijmans Van Beuningen-Museums, das seit Mai 2019 von Mecanoo umgebaut wird und 2026 eröffnen soll. Die kreisrunde Form des Depots, die sich nach oben hin auf 60 Meter weitet, hat eine Grundfläche von 40 Metern am Boden. Das, was an Parkfläche unten nun wegfällt, wurde als Dachgarten oben wieder aufgesetzt. Mehr als 70 meterhohe Birken säumen die Terrasse neben dem Restaurant, das sich in einem kreuzförmigen Aufbau befindet, der für Veranstaltungen gemietet werden kann. Neben der Renaturierung wurden – wo immer möglich – nachhaltige Materialien verwendet. So ist das Gebäude mit einem geothermischen Wärmetauscher, Photovoltaik, LED-Lampen sowie einem Regenspeicher ausgestattet, der Wasser für den Dachgarten und die Toilettenanlagen liefert.

Kunst wohin das Auge blickt
Impressionen von Cornelia Ganitta
Selbst bei schlechtem Wetter ist der Ausblick vom Dach faszinierend
Winy Maas, kurz vor seiner Depot-Präsentation vor der Weltpresse am 2.11.21. Im Hintergrund rechts der ausführende Architekt Arjen Ketting
Eine Mitarbeiterin zeigt Schätze aus der Sammlung von KPN. Derzeit haben drei auswärtige Sammler ein Lager im Depot gemietet. Der niederländische Telefon-Konzern ist mit 800 Werken vertreten.
Auch zum Restaurant hin führt kein Weg an der Kunst vorbei
Die Kunst ist nach Material und Größe sortiert: Im zentralen Atrium streunt man an Lagerräumen vorbei, die gekennzeichnet sind mit "Anorganische Materialien klein", "Kunststoffe", "Metall" oder auch "Hängende Objekte".
Das "Spitzen-Duo" des Boijmans Van Beuningen, Sjarel Ex und Ina Klaassen, erläutert das Konzept: "You go through the collection like searching a book and finding three others".

Wer nicht aufpasst, stolpert über Maurizio Cattelan

Besucherinnen und Besucher der 15.500 Quadratmeter Nutzfläche umfassenden, sechsstöckigen "Arche" können sich allein oder fachkundig geführt umsehen. Umgeben von Kunst werden sie über fünf große Zickzack-Treppen im Piranesi-Stil nach oben geleitet. Wer nicht aufpasst, "stolpert" in der einen Etage über den Kopf eines lebensecht wirkenden Mannes von Maurizio Cattelan, während "der Rest" von ihm eine halbe Etage tiefer auf einem hochgestapelten Stuhl steht. Weitere Kunst- und Designobjekte hängen entweder an Ziehgestellen oder sie sind in einer der 13 riesigen Vitrinen ausgestellt, die im Atrium von allen Seiten sichtbar installiert sind. Sie werden regelmäßig ausgewechselt, um einen möglichst umfassenden Einblick in die enorme Sammlung des Hauses zu geben.

Die Kunst ist nicht nach Epoche, sondern nach Größe und entsprechend ihrer klimatischen Anforderungen in fünf verschiedenen Zonen gelagert. Vor allem aber ist sie mindestens sechs Meter hoch aufbewahrt, denn Holland ist nah am Wasser gebaut. Mehr noch: Ein Drittel des Landes befindet sich unter dem Meeresspiegel – so auch die Hafenstadt Rotterdam, weshalb für die Bauarbeiten am Depot der Einsatz von Spundwänden nötig war.

Dass ein solches Konzept seinen Preis hat, liegt auf der Hand. Rund 92,5 Millionen Euro (inklusive Einrichtung) musste das Museum dafür berappen, 27,6 Millionen steuerte die philanthropische Stiftung De Verre Bergen bei. Der Rest trägt sich über die Stadt, Spenden, Eintritte und die Vermietung von Depoträumen an private Sammler. Neben dem niederländischen Telefon-Konzern KPN (mit 800 Werken vertreten) und der Rabobank (1000 Werke) nimmt dies aktuell Ali Kelesvon der Lakeside Collection in Anspruch. Mehr als 80 Objekte der Zeitspanne 1946 bis 2021 hat der Artinvestor im Depot Boijmans Van Beuningen eingelagert.

Das "Auge" der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist sorgt für eine fantastische Illuminierung bei Nacht
Ali Keles neben "Sleeping Girl" (2021), einer Arbeit des flämischen Konzeptkünstlers Hans Op de Beeck

"Every penny is deserved"

Im Showroom zu sehen sind Werke von unter anderen Hans Op de Beeck und Joana Schneider. Für Keles ist die Möglichkeit, hier Räume anzumieten, eine Win-Win-Situation: "Wir unterstützen das Museum und das Museum unterstützt uns", sagt er. So läge das gesamte Art Handling beim Depot, vom Transport, dem Einlagern, der Begutachtung durch Restauratoren bis hin zum Verwahren der Kunst. Der Service sei phänomenal, schwärmt Keles. Über die Kosten hingegen schweigt er sich aus. Nur so viel gibt er preis: "Every penny is deserved".

Über die Vermietung hinaus wurden insgesamt 1000 Glaspaneele, die man für Geld "adoptieren" konnte, unters Volk gebracht. Die Rotterdamer, so scheint es, haben sich mit ihrer neuen teuren Perle arrangiert. Man nimmt die hohen Kosten gern in Kauf für diesen einzigartigen Bau, für den minimal 150.000 Besucher pro Jahr angepeilt werden und der schon jetzt als ein weiteres Wahrzeichen der Metropole gefeiert wird. "Wir wollen jedes Mal etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes zeigen" ist ein Grundsatz von Architekt und MVRDV-Chef Winy Maas. Nach ikonischen Entwürfen weltweit und in Rotterdam selbst (Markthal, 2014), ist ihm und seinem Team dies mit dem neuen Depot einmal mehr gelungen.

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