ANGEGRENZT

Das Kunstfestival "Utopia" im französischen Lille plädiert für ein besseres Miteinander zwischen Mensch und Natur

Veröffentlicht in: AACHENER ZEITUNG / AACHENER NACHRICHTEN, 27.8.2022

Von der Decke der Bahnhofshalle des Gare Lille Flandres baumelt eine gigantische Gestalt. Die Portugiesin Joana Vasconcelos (1971) hat sie in monatelanger Handarbeit modelliert. Die ursprünglich 2019 für das Pariser Kaufhaus Le Bon Marché Rive Gauche aus Wolle und recycelten Textilien produzierte Walküre namens „Simone“ wurde für Lille adaptiert. Ihr Körper ruht auf einem riesigen Schlauchboot mit einer Länge von über 40 Metern, das in einen Dialog mit dem umgebenden Raum tritt. Simone ist eine Hommage der Künstlerin an drei große französische Frauen: Simone de Beauvoir (1908-1986), Simone Veil (1927-2017) und schließlich Simone Hérault (1950), die ihre Stimme über vierzig Jahre lang dem staatlichen Eisenbahnunternehmen SNFC verlieh. 

Draußen vor der Tür säumen fünf monumentale Moos-Menschen wie ein Volk von Riesen je rechts und links die Rambla (Rue Faidherbe) von Lille. Der Finne Kim Simonsson (1974) ist Erschaffer dieser im Wortsinn sagenhaften Wesen, die aus nordischen Märchen stammen und im Einklang mit der Natur leben. Alle Charaktere - vom Doktor, über den Reisenden, den Lehrer oder den Pflücker - sind mit Attributen ausgestattet, die ihre gesellschaftliche Rolle oder Position spezifizieren, auch wenn sie hier der nordischen Mystik entsprechend als Kinder dargestellt werden. 

Kim Simonsson präsentiert seine Moosmenschen auf der Rambla von Lille, alle Fotos: Cornelia Ganitta

Kulturelle Dynamik

Joana Vasconcelos und Kim Simonsson sind nur zwei gewichtige Botschafter der Kunst von „lille3000“. Die nordfranzösische Metropole – nur 30 Kilometer von der belgischen Grenze und 35 Zugminuten von Brüssel entfernt – lässt sich allerlei einfallen, um weiter auf der Welle seines Europäischen Kulturhauptstadt-Erfolgs von 2004 zu reiten. Damals besuchten mehr als 2,5 Millionen Kulturinteressierte die rund 1500 Veranstaltungen und 92 Ausstellungen. Seitdem hat es schon fünf thematische Editionen von lille3000 gegeben. Dieses außergewöhnliche Ereignis habe die Metropole, die Region und ihre kulturelle Dynamik nachhaltig verändert, so Thierry Landron, Präsident von lille3000, im Veranstaltungs-Editorial. Nach unter anderem Fantastic (2012), Renaissance (2015) und Eldorado (2019), findet nun mit „Utopia“ die 6. Ausgabe in der Hauptstadt der Großregion Hauts-de-France statt, die sich 2016 aus dem Zusammenschluss der bisherigen Regionen Nord-Pas-de-Calais und Picardie gebildet hat. „Wie bei jeder Ausgabe wird Utopia die Bewohner durch groß angelegte Projekte, Ausstellungen, urbane Metamorphosen und Symposien in ihren Bann ziehen“, ist Landron überzeugt. Utopia ist ein griechischer Neologismus des englischen Schriftstellers Thomas More, der normalerweise ein nicht existierendes Ideal bezeichnet. In Zeiten des Klimawandels aber, versucht Utopia, mit künstlerischen Visionen die Hierarchie zwischen Mensch und Natur – und hier besonders dem Wald – aufzuheben und zu einem neuen Miteinander zu kommen.  

Die "kosmische Schlange" wacht vor dem Hospiz-Museum

Rund 800 regionale Aktivitäten, Opern, Konzerte, Lichtinstallationen und Ausstellungen tragen dazu bei. Im Musée de l´Hospice Comtesse, dem ältesten Museum der Stadt, das in einem ehemaligen Hospiz aus dem 17. Jahrhundert untergebracht ist, sind rund 45 Künstler und Künstlerinnen vertreten. Allen voran der Franzose Jean-François Fourtou (1964). Das Universum des in Marrakesch lebenden Künstlers wird hier und in der Innenstadt, von seinen umherziehenden Nanitos, die er seit Jahren schon produziert, repräsentiert. Auch in der Hospiz-Ausstellung „Le serpent cosmique“ (Die kosmische Schlange) sind sie im Einsatz. Nanitos ernähren sich von ihrer natürlichen Umgebung, sie leben im Garten, wo sie zu wahren Selbstversorgern mutieren. Im Hospiz-Museum ist der gesamte Kräutergarten mit – excuse – VON ihnen gestaltet. Wie Mainzelmännchen, die über Nacht Großes bewirken, kommen die witzigen Figuren daher. Sie basieren auf einer Geschichte, die der Künstler an seine Tochter weitergegeben hat. Demnach graben Nanitos unterirdische Labyrinthe und wachsen im Gemüsebeet. Auch im Museum selbst machen sich die emsigen Kerlchen zu schaffen, wo sie einen Tisch decken, samt einiger Malheure, wie sie etwa mit einer umgekippten Sauciere zum Tragen kommen. Die Köpfe der Fabelwesen – die hier ihres kleineren, speziell für lille3000 angefertigten Formats wegen Minitos heißen – bestehen aus Kohl, Artischocken und Paprika. Ein ebenso lustiges wie partizipatives Projekt, denn seit Dezember 2021 schon, lernen Multiplikatoren von Puppenbauern aus der Region wie Minitos hergestellt werden und tragen so zu ihrer Verbreitung bei.   

Jean-François Fourtous Nanitos machen sich im Garten zu schaffen ...
... während seine Minitos im Museum den Tisch eindecken - kleine Malheure inbegriffen

Eine weitere Ausstellung wird im Gare Saint Sauveur, dem ehemaligenGüterbahnhof von Lille, der im Rahmen von Lille 2004 zu einer hippen Konzert- und Tanzlocation mit (Außen-)Gastronomie umfunktioniert wurde, geboten. „Novacène“ ist angelehnt an die optimistische Zukunftsvision des berühmten britischen – inzwischen über hundertjährigen – Wissenschaftlers James Lovelock, der unser gegenwärtiges, von Umweltkatastrophen gebeuteltes Anthropozän als eine überwundene Ära betrachtet. Eine gewagte These in einer Zeit, in der die Prognosen zu der von Menschen gemachten globalen Erwärmung pessimistischer denn je sind. Da aber Kunst auch die Funktion hat, Lösungen zu bieten, laden die Werke der hier präsentierten Künstler und Künstlerinnen – Allora & Calzadilla, Bigert & Bergström, Bianca Bondi, Haroon Mirza, Fabien Léaustic, Marie-Luce Nadal, Bo Zheng und andere – dazu ein, unsere Rolle als Spezies zu überdenken und sich für eine lebenswerte Zukunft in Koexistenz mit Pflanzen und Tieren stark zu machen. 

"Have you seen me before?" fragt der Eisbär von Paola Pivi

Fondation Cartier

Im Tripostal, dem alten Postkantor, dessen Fortbestehen zunächst nicht garantiert war und das sich heute als äußerst beliebter Kulturort erweist, sind 250 Werke der Fondation Cartier pour l´art contemporain vereint. Seit mehr als zwanzig Jahren entwickelt die Kunst-Stiftung ein Programm, das sich mit den großen ökologischen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt. Im Lauf der Zeit wurde die Sammlung um viele Werke bereichert, die anregen sollen, einen neuen Blick auf die Schönheit und Verletzlichkeit der Welt zu werfen. Herzstück der Ausstellung „Les Vivants“ (Die Lebenden) sind Werke zeitgenössischer indianischer Künstler aus dem brasilianischen und venezolanischen Amazonas, die erstmals in Europa zusammengeführt werden. Ihre Erfahrung einer gleichberechtigten Beziehung zwischen unterschiedlichsten Lebewesen, stellt eine uralte Tradition dar, von der wir in dieser Zeit der ökologischen Krise nur lernen können. 

Schließlich zu nennen sind noch die Maisons Folie Wazemmes & Moulins, die „verrückten Häuser“, die einst Spinnerei und Brauerei waren, und die jetzt mit der Ausstellung „Le Jardin d´Eden“ (Der Garten Eden) aufwarten. Neben weiteren Arbeiten von Joana Vasconcelos und Kim Simonsson, sind hier die künstlerischen Kreationen von Mathieu Frossard, Cyril Lancelin, Peter van den Ende und Peter de Cupere zu sehen. Und auch das altehrwürdige Palais des Beaux-Arts präsentiert mit „La forêt magique“ eine sehenswerte Schau, in der es – man ahnt es schon – ebenfalls um den Erhalt unserer lebenswichtigen Naturressourcen geht.

INFO: „Utopia“ findet im Rahmen von lille3000, noch bis zum 2. Oktober statt. Internet: www.utopia.lille3000.com. Der Kauf einer C'ART-Karte könnte lohnen: 40 €/Jahr Erwachsene, 20 €/Jahr Jugendliche. Mit ihr hat man Zugang zu allen Utopia-Veranstaltungen und allen Museen von Lille. Eine andere Möglichkeit ist der Citypass Lille. Dieser Pass ist 24 Stunden (25 €), 48 Stunden (35 €) oder 72 Stunden (45 €) gültig und ermöglicht den Eintritt zu 40 Museen, inklusive öffentlichem Nahverkehr in Lille. Allerdings ist das Stadtzentrum kompakt und zu Fuß gut zu bewältigen. Eine neue Unterkunft, in einem Seitenarm der Fußgängerzone gelegen, ist das Okko-Hotel (Internet: www.okkohotels.com). Weitere Reisetipps für Lille: www.lilletourism.com.